„Gerechtigkeit ist nur eine Perspektive“ – dieser Satz wirkt zunächst provokant. Er stellt in Frage, was viele für selbstverständlich halten: Dass es so etwas wie objektive Gerechtigkeit gibt. Noch radikaler erscheint die Aussage: „Auch Menschenrechte sind gelernt und nur subjektiv gerecht.“ Doch beide Gedanken führen uns direkt in das Herz moderner Debatten über Moral, Recht und kulturelle Unterschiede.
1. Gerechtigkeit: Eine Frage des Standpunkts
Gerechtigkeit ist eines der zentralsten Konzepte in Philosophie, Politik und Recht. Dennoch ist kaum ein Begriff so umstritten und dehnbar.
– Philosophisch betrachtet etwa Platon Gerechtigkeit als eine objektive, ideale Ordnung. Aristoteles unterscheidet zwischen verteilender und ausgleichender Gerechtigkeit.
– Moderne Theoretiker wie John Rawls definieren Gerechtigkeit als Fairness – auf Grundlage eines hypothetischen Urzustands.
– Postmoderne Ansätze (z. B. Foucault oder Nietzsche) sehen Gerechtigkeit eher als Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse – also perspektivisch und wandelbar.
Was in einem Land als gerecht gilt, kann in einem anderen als tiefes Unrecht empfunden werden. Selbst innerhalb einer Gesellschaft variieren die Vorstellungen – abhängig von Klasse, Geschlecht, Alter oder kulturellem Hintergrund.
Ein Steuerprivileg mag für einen Unternehmer „gerecht“ sein – für einen Arbeiter „ein Skandal“.
Diese Unterschiede zeigen: Gerechtigkeit ist nicht universell gegeben, sondern hängt stark davon ab, wer sie definiert, durchsetzt und davon profitiert.
2. Menschenrechte: Universal oder westlich?
Menschenrechte werden häufig als unantastbares Fundament einer gerechten Welt dargestellt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist ein Ausdruck dieses Ideals. Doch auch hier lohnt sich ein kritischer Blick.
a) Historischer Kontext
– Die Idee der Menschenrechte entstand nicht in einem Vakuum, sondern in der europäischen Aufklärung.
– Der Fokus liegt auf individueller Freiheit, Autonomie und Eigentum – Prinzipien, die nicht in allen Kulturen zentral sind.
– Viele nicht-westliche Gesellschaften betonen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, nicht Rechte des Einzelnen.
b) Menschenrechte als erlerntes Konzept
– Niemand „kennt“ Menschenrechte von Geburt an. Sie müssen vermittelt, eingeübt, verstanden werden.
– Ohne Bildung, Sprache und kulturellen Kontext bleibt die Idee abstrakt.
Rechte sind kein natürlicher Instinkt, sondern ein gesellschaftlich erlerntes System – vergleichbar mit Geld, Gesetzen oder Staaten.
3. Subjektive Gerechtigkeit im globalen Diskurs
Die Frage ist: Wenn Menschenrechte und Gerechtigkeit jeweils aus Perspektiven entstehen – können sie dann überhaupt universal gültig sein?
Beispielhafte Spannungen:
– Meinungsfreiheit: In liberalen Demokratien nahezu heilig. In autoritären Regimen als Bedrohung der Ordnung empfunden.
– Religionsfreiheit: Für viele ein Grundrecht, für andere ein Widerspruch zu kulturellen oder religiösen Dogmen.
– Gleichberechtigung: Was in Europa als selbstverständlich gilt, wird in anderen Regionen als „westlicher Imperialismus“ abgelehnt.
Das Dilemma:
– Universalismus: Menschenrechte gelten immer und überall – unabhängig von Kultur oder Religion.
– Kultureller Relativismus: Jede Kultur hat das Recht, eigene Werte zu leben – auch wenn sie den Menschenrechten widersprechen.
Diese Spannung ist nicht auflösbar, aber sie zeigt: Auch das, was „gerecht“ oder „richtig“ scheint, ist stets durch Brillen kultureller, politischer und historischer Erfahrung gefärbt.
4. Was bleibt? Eine reflektierte Haltung
Weder Gerechtigkeit noch Menschenrechte sind neutrale, objektive Wahrheiten. Sie sind Produkte menschlicher Geschichte, Aushandlung und Machtstrukturen. Dennoch können sie Leitlinien für ein besseres Zusammenleben sein – wenn wir sie nicht dogmatisch, sondern kritisch und kontextsensibel anwenden.
Gerechtigkeit ist immer auch eine Perspektive –
Menschenrechte sind immer auch ein kulturelles Angebot.
Doch beide sind notwendig, um den Dialog über ein würdiges Leben für alle Menschen offen zu halten.