Einleitung
Wissenschaft gilt in der Moderne als höchste Autorität. „Die Wissenschaft sagt…“ – dieser Satz soll Diskussionen beenden. Doch genau das ist problematisch: Wissenschaft wird oft als Wahrheitsinstanz missverstanden. Sie erscheint wie eine neue Religion, die nicht nur beschreibt, sondern verkündet, „wie es ist“. Diese Haltung ist nicht nur philosophisch fragwürdig, sondern auch gefährlich, weil sie Wissenschaft dogmatisch überhöht und ihre eigentliche Stärke verdeckt: den Zweifel.
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Popper: Wissen als Irrtum auf Zeit
Karl Popper machte deutlich: Wissenschaft kann niemals endgültige Wahrheiten liefern.
– Sie produziert Theorien, die sich bewährt haben – bis sie widerlegt werden.
– Falsifikation ist das Herzstück: Jede Aussage muss prinzipiell widerlegbar sein.
– Wer Wissenschaft zur absoluten Wahrheit erhebt, verrät ihr kritisches Prinzip.
Popper war damit ein entschiedener Gegner der Idee, dass Wissenschaft je „fertig“ oder unantastbar sein könnte.
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Kuhn: Paradigmen und die Blindheit der Normalwissenschaft
Thomas Kuhn zeigte, dass Wissenschaftler im Alltag keineswegs ständig falsifizieren.
– Sie arbeiten innerhalb eines Paradigmas, das vorgibt, was überhaupt als Tatsache zählt.
– Anomalien werden oft verdrängt oder kleingeredet – bis eine Krise entsteht.
– Revolutionen brechen alte Denkmuster auf, aber nie durch reine Logik, sondern durch einen kulturellen Paradigmenwechsel.
Das bedeutet: Wissenschaft ist nicht der neutrale Blick auf „die Welt, wie sie ist“, sondern immer geprägt von Weltbildern und historischen Rahmenbedingungen.
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Der moderne Wissenschaftsdogmatismus
Heute zeigt sich eine Tendenz, Wissenschaft zu überschätzen und misszuverstehen:
1. Wissenschaft als Wahrheit
– Statt Modelle als vorläufig zu verstehen, werden sie als endgültige Wahrheiten verkauft.
– Beispiel: Lange galt das Newtonsche Weltbild als unerschütterlich – bis Einstein kam.
2. Wissenschaft als Religion
– „Die Wissenschaft“ tritt in Medien und Politik oft wie ein neuer Papst auf: unfehlbar, alternativlos, normativ.
– Wer widerspricht, gilt schnell als „irrational“, auch wenn er berechtigte Kritik an Methoden übt.
3. Wissenschaft als Herrschaftsinstrument
– Wo wissenschaftliche Aussagen in politische Entscheidungen übersetzt werden, verschwimmt der Unterschied zwischen empirischem Befund und normativem Handeln.
– Wissenschaft kann beschreiben, was ist, aber nicht allein festlegen, was sein soll.
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Der eigentliche Wert der Wissenschaft
Gerade wenn wir uns von ihrer Überhöhung lösen, zeigt sich, was Wissenschaft wirklich stark macht:
– Sie ist fehlertolerant: Irrtümer sind kein Versagen, sondern Motor des Fortschritts.
– Sie ist selbstkorrigierend: Paradigmen können sich ändern, wenn sie nicht mehr tragen.
– Sie ist praktisch wirksam: Ihre Modelle müssen nicht „wahr“ sein, um erfolgreich zu funktionieren.
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Fazit: Wissenschaft ohne Absolutismus
Wissenschaft ist kein Wahrheitsorakel, sondern ein Werkzeug zur Annäherung an Wirklichkeit. Sie ist nie fertig, nie absolut, nie unabhängig von menschlichen Perspektiven. Wer sie zur neuen Religion erhebt, zerstört genau das, was sie ausmacht: Kritik, Offenheit und Wandelbarkeit.
👉 Die größte Stärke der Wissenschaft liegt nicht in ihrer vermeintlichen Wahrheit, sondern in ihrer Fähigkeit, sich zu irren – und daraus zu lernen.