Die Logik der Macht
Ausgangspunkt vieler heutiger Diskurse ist die strukturelle Definition von Rassismus: Nicht individuelle Vorurteile stehen im Vordergrund, sondern Machtverhältnisse.
„Rassismus ist nicht, wenn jemand dich nicht mag. Rassismus ist, wenn dir deshalb Chancen genommen werden“, formulierte es der US-Aktivist Ibram X. Kendi (How to Be an Antiracist, 2019).
In der deutschen Debatte wurde dieser Gedanke über die Postkolonialen Studien und die Critical Race Theory aufgenommen.
Forschende wie die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan (DeZIM) betonen, dass die Mehrheitsgesellschaft oft unbewusst Strukturen reproduziere, die „Weiße“ privilegieren und „Nicht-Weiße“ benachteiligen.
Das Anliegen ist berechtigt – doch seine politische Übersetzung führt in der Praxis zu neuen moralischen Unwuchten.
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Wenn Moral zur Währung wird
Im öffentlichen Raum wird der strukturelle Rassismusbegriff häufig nicht mehr analytisch, sondern moralisch verstanden.
Das zeigt sich etwa in Debatten über kulturelle Aneignung.
Als 2022 die Berliner Clubszene auf Twitter forderte, „weiße Menschen mit Dreadlocks“ sollten ihre Frisuren ändern, argumentierten Aktivisten mit kulturellem Respekt.
Doch viele fragten zu Recht: Wann wird Solidarität zur Bevormundung?
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani warnte bereits 2020:
„Wer die Gesellschaft verändern will, darf sie nicht moralisch sortieren. Denn dann ersetzt man alte Hierarchien durch neue.“
(Spiegel-Interview, 2020)
Genau das geschieht zunehmend.
„Weiße“ sollen vor allem zuhören, sich „reflektieren“, „dezentrieren“ – während Menschen anderer Herkunft als moralisch unangreifbar gelten.
Die ursprünglich emanzipatorische Idee des „Empowerments“ verwandelt sich so in eine neue Form der Identitätspolitik, die das Prinzip der Gleichheit untergräbt.
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Doppelte Standards
Das sichtbarste Symptom dieser Schieflage ist eine asymmetrische Bewertung von Handlungen.
Wenn eine weiße Schauspielerin indigene Kleidung trägt, gilt das als kulturelle Aneignung;
wenn ein Rapper aus afrikanischer Diaspora europäische Luxusmarken trägt, ist es Mode.
Wenn ein weißer Comedian ethnische Stereotype aufgreift, gilt das als Rassismus;
wenn ein schwarzer Comedian dieselben über Weiße verwendet, als gesellschaftskritische Satire.
Diese Doppelstandards sind nicht zufällig, sondern folgen der Vorstellung, dass Rassismus „nur von oben nach unten“ wirken könne.
Doch, wie der französische Autor Thomas Chatterton Williams schreibt:
„Wenn wir Rassismus nur als Einbahnstraße verstehen, zementieren wir genau jene Kategorien, die wir abschaffen wollen.“
(Self-Portrait in Black and White, 2019)
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Schuld ersetzt Verantwortung
Die strukturelle Theorie wird in der Praxis häufig zur moralischen Anklage umgedeutet:
„Weißsein“ wird nicht mehr als soziologisches Konzept, sondern als moralischer Makel behandelt.
In sozialen Netzwerken ist das tägliche Ritual der Selbstkritik längst Teil einer neuen Glaubenspraxis geworden.
Der Kulturwissenschaftler Markus Gabriel warnte 2021 in der FAZ, die „Verwandlung sozialer Theorie in Bußrituale“ gefährde den offenen Diskurs, „weil sie jede Kritik als moralisches Vergehen“ deute.
Diese Haltung erzeugt Frust – nicht nur rechts außen, sondern auch in der liberalen Mitte.
Wer Gleichheit will, aber nur mit ungleichen Maßstäben argumentiert, verliert Glaubwürdigkeit.
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Der Verlust des Universellen
Ursprünglich war die linke Idee vom Antirassismus universalistisch:
Die Würde des Menschen galt als unteilbar, seine Rechte als gleich.
Heute jedoch droht ein „moralischer Partikularismus“, der Menschengruppen nach historischer Schuld oder Betroffenheit hierarchisiert.
So wird aus Gleichheit ein politisches Nullsummenspiel: Wer früher dominant war, darf heute weniger sagen; wer früher benachteiligt war, gilt automatisch als moralisch im Recht.
Der Philosoph Jürgen Habermas formulierte schon 1998, echte Demokratie erfordere „die Gleichheit der Sprechenden“ – unabhängig von Herkunft.
Diese Gleichheit des Diskurses gerät nun unter Druck, wenn Herkunft selbst wieder zur Legitimation oder zum Ausschlusskriterium wird.
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Ein neuer Universalismus
Eine moderne, glaubwürdige Antirassismusbewegung müsste beides leisten:
Sie müsste die Realität von Machtverhältnissen anerkennen, ohne daraus moralische Monopole zu machen.
Sie müsste Empathie für alle Gruppen fordern, ohne historische Opferrollen in dauerhafte Identitäten zu verwandeln.
Wie der Sozialpsychologe Jonathan Haidt betont, lebt eine pluralistische Gesellschaft davon, dass Menschen „nicht in Gruppen, sondern als Individuen moralisch urteilen“.
(The Righteous Mind, 2012)
Das Ziel darf nicht sein, neue Grenzen zu ziehen, sondern alte aufzulösen.
Denn Gleichheit, die nur in eine Richtung gilt, ist keine.
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Fazit
Die aktuelle Antirassismusbewegung steht an einem Scheideweg.
Sie kann sich entscheiden, ob sie ein Projekt der universellen Gleichheit bleibt –
oder zu einer moralischen Identitätspolitik wird, die neue Mauern errichtet, wo sie Brücken versprechen wollte.
In einer demokratischen Gesellschaft darf niemand von der Pflicht zum Respekt ausgenommen werden –
und niemand vom Recht auf Würde.
Die wahre Gerechtigkeit beginnt dort,
wo Herkunft und Hautfarbe keine moralische Rolle mehr spielen.